Capernaum - Stadt der Hoffnung | Kritik (2024)

Wir können ja nicht allen helfen! Nadine Labakis libanesischer Elendsfilm Capernaum ist entweder eine naive Gerichtsverhandlung oder ein grandioser Schau-Prozess.

Geschichte einer Identifikation. Am Anfang steht eine Schätzung, am Ende ein Dokument. In der ersten Szene schauen wir Zain (Zain Al Rafeea) ins Maul. Ein Arzt sieht sich die Zähne an, schätzt das Alter des Jungen auf 12. Dann beginnt Nadine Labakis Capernaum (Capharnaüm) mit einem Showdown: In Handschellen wird dieser Junge dem Richter vorgeführt, die Musik schwillt an, parallel dazu steigt eine Frau aus dem Bus, wird ein Gerichtssaal vorbereitet, und dann stehen alle endlich vor dem Richter, und der Prozess kann beginnen. Zain ist schon seit ein paar Jahren in Jugendhaft, weil er den Mann mit einem Messer angegriffen hat, der seine 11-jährige Schwester als Ehefrau gekauft hat. Nun aber ist er selbst ein Kläger, und seine Eltern sitzen auf der Anklagebank. Was ist da passiert, fragen wir uns, und freuen uns auf die erste Rückblende.

Das Elend ist, dass es so weitergeht

Die aber erzählt uns nicht einfach eine Geschichte, sie baut erst mal einen ganz anderen Film, wirft uns in eine Welt ohne Justiz, in der das Gefängnis sich höchstens architektonisch von seiner Umwelt unterscheidet, in der man dem Cousin über den Zaun hinweg in Richtung Zellenfester zuwinkt wie einem beliebigen Nachbarn. Ein Slum im Libanon, in dem wir uns eher schlecht als recht an Zaid festhalten, denn auch das Bild schafft niemals Stabilität, weil es völlig zerschnitten ist, kaum eine Einstellung hält länger als fünf Sekunden, schon kommt die nächste, jede Orientierung für die Katz. Wenn Capernaum ein Elendsp*rno ist, dann einer mit viel Sex, aber ohne c*mshots. Weil das Drama ist, dass es so weitergeht, ist das Elend hier nicht eingesperrt, damit wir es begaffen können, es lädt nicht zum betroffenen Verweilen ein, sondern schickt uns direkt eine Einstellung weiter, es ist nicht Zeit-, sondern Bewegungsbild, nicht umrahmbare Situation, sondern zerschnittener Überlebenskampf. Eine Welt ohne Papiere, in der hinter jedem Schnitt der Tod droht.

Anklageschrift in einer papierlosen Welt

Die bürgerliche Empörung kommt in dieser Welt gar nicht hinterher, so schnell reihen sich Menschenhandel an Kindesmisshandlung, so viele festgekettete, bewaffnete, geschlagene und beschimpfte Kinder sehen wir, Kinder ohne Eltern oder mit ganz furchtbaren. Beruhigend, uns an den Anfang des Films zu erinnern, beruhigend zu wissen, dass wir uns ja längst im Gerichtssaal befinden, dass sich am Ende alles klären, alles formalisieren wird, dass wir wissen werden, wer denn nun Schuld hat an all diesen Dingen, und das Ergebnis wird dann hoffentlich festgehalten, auf Papier. Wenn dann endlich eine moralische Logik Einzug hält, die sich in der papierlosen Welt niemand leisten kann.

In dieser papierlosen Welt ist Leben Geld, hat der obligatorische Schulpflicht-Dialog von einem Bildungsideal noch nie was gehört, beide Seiten argumentieren ökonomisch, man wägt die verlorene Arbeitszeit des Kindes gegen die prognostizierte Unterstützung durch die Schule auf. In unserer Welt dann stehen die Eltern, die dort argumentieren, vor Gericht, und die Anklage kennen wir schon aus dem Dialog, der anstatt einer Synopsis im Festival-Katalog zu lesen war: Der Richter fragt den Jungen, warum er seine Eltern verklagt hat, und der antwortet: Weil sie mir das Leben gegeben haben.

Man kann diese paradoxe Anklage, auch weil sich die Regisseurin selbst als Anwältin ihres jungen Protagonisten gecastet hat, ganz explizit verstehen, als unverhohlenes Abtreibungsplädoyer, als biopolitischer Appell gegen die Überbevölkerung. Ebenso kann man sie, und auch dafür ließe sich diese Eigenbesetzung von Nadine Labaki ins Feld führen, als eine Reflexion übers Filmemachen und als harte Kritik verstehen, als Zuspitzung eines westlichen Blicks, den das tot aus dem Mittelmeer gefischte Kind mehr interessiert als der lebendige Vater, der es auf den Armen trägt. Wider den Familiennachzug: Das Paradox des Flüchtlingsjungen ohne seine Existenzbedingungen, ein europäischer Traum.

Gelungene Integration

Zwei Filme schlagen sich also in diesen Bildern, und Capernaum inszeniert den Sieg des erträglichen über den unerträglichen, den Sieg der Papiere über die Welt der Papierlosen. Wenn Zain nach dem dramatischen Verkauf seiner Schwester wutentbrannt abhaut, den Bus nimmt in eine andere Stadt, ein echtes Abenteuer erlebt, dann werden die Einstellungen zwischenzeitlich auch mal länger, dann fügt Labaki gar Zeitlupen und Close-ups ein, greift auf dramatische Musik zurück, beruhigt uns ein bisschen, indem sie herauszoomt aus dem papierlosen Leben, um aus ihm eine Postkarte zu machen, dann schenkt sie ihrem kleinen Helden sogar eine Fahrt auf einem Riesenrad, von dem er die Sonne im Meer untergehen sieht.

Aber diese Bilder müssen sich erstmal behaupten lernen gegen das hart geschnittene, nackte Leben, das den Film nicht kampflos herschenkt, sondern sich seiner immer wieder bemächtigt; ein Leben, das Zain zu einem Jahrmarkt führt, in dem er einen wunderlichen alten Mann kennenlernt, der ein Spider-Man-Kostüm mit einer Kakerlake statt einer Spinne trägt; in dem er die Klofrau Rahil (Yordanos Shiferaw) aus Äthiopien kennenlernt, die ihren kleinen Sohn verstecken muss, will sie überleben; und in dem er, als Rahil irgendwann spurlos verschwunden ist, sich selbst um das Baby kümmern muss. Und so schlagen sich dann also ein 12-Jähriger und ein Kleinkind durch eine Welt ohne Papiere, ohne Geld, ohne Muttermilch. Einmal taumelt dieses Kleinkind unbegleitet in Richtung einer viel befahrenen Straße, da erschrecken wir kurz, aber zum Glück schneidet der andere Film dann wieder ins Bild und ruft: Halt, Papiere bitte!

Lieber identifizieren als dem Tod ins Auge sehen: In der letzten Einstellung dieses Films lächelt uns Zain von seinem schicken, neuen Ausweis an. Er wird nun nicht mehr auf 12 geschätzt, er ist jetzt 12. Das bürgerliche Elendskino gibt dem nackten Leben Papiere, weil es nur so funktionieren kann. Ein Individuum, now we’re talking! Aber wo das Kino Einzelschicksale herstellt, vergisst es immer eine ganze zerschnittene Welt, und klar, es kann schließlich auch nicht allen helfen, nicht jeder äthiopischen Klofrau, schon gar nicht irgendeinem dahergelaufenen Kakerlakenmann, und bei Gott nicht diesen Eltern.

Letzte Zweifel

Hat dieser Film diese Bewegung nun einfach durchgeführt, oder hat er sie uns vorgeführt? Was ist Capernaum? Entweder eine bürgerliche Fantasie oder ihre Dekonstruktion. Entweder ein sehr naiver Film mit einem fiebrigen politischen Unbewussten oder eine sehr schlaue Abrechnung. Entweder eine langweilige Gerichtsverhandlung oder ein grandioser Schau-Prozess.

Wie auch immer: Begrüßen wir wenigstens Zain in unserer Welt der Papiere, qualifiziert hat er sich dafür mit viel Leid, mit vielen Tränen, aber auch mit der rechtschaffenen Rache am Dieb seiner Schwester, mit der Klage gegen seine verantwortungslosen Eltern, und auch als fürsorglicher Baby-Versorger hat er sich ja schon bewiesen. Nehmen wir ihn also beseelt auf, während wir gleichzeitig wünschen, er wäre nie geboren. Lieben wir sein Bild, aber hassen wir seine Existenz. Und seien wir froh, dass wir im Kino stets das eine ohne das andere kriegen.

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Author: Kieth Sipes

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